Wie breit darf die Nullabsenkung an Querungsstellen mit differenzierter Bordhöhe sein?
Der Bayrische Blinden- uns Sehbehindertenbund e. V. (BBSB e. V.) stellte am 07.10.2009 einen Antrag an den Verwaltungsrat des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e. V. (DBSV) anlässlich dessen Sitzung vom 23./24.10.2009. Mit diesem Antrag setzte sich der BBSB e. V. dafür ein, alternativ zur Gestaltung von Querungsstellen mit einheitlich 3 cm Bordhöhe, auch die Gestaltung von Querungsstellen mit einer Nullabsenkung zu ermöglichen.
Dabei sah er „in einer für Rollstuhlnutzer ausreichend breiten Nullabsenkung“ u. a. auch keine zusätzliche Gefährdung blinder und sehbehinderter Menschen.
💡 Dieser Antrag enthielt keine Maßangaben für eine Mindest- oder Maximalbreite der Nullabsenkung.
Zustimmung zur Gestaltung von Querungsstellen mit einer Nullabsenkung
Zustimmung des DBSV-Verwaltungsrates:
Der DBSV-Verwaltungsrat kam in seiner Sitzung vom 23./24.10.2009 diesem Antrag nach und stimmte der Gestaltung derartiger alternativer Querungsmöglichkeiten zu. Zudem beschloss er, dass die Lösungsansätze, Nullabsenkungen bis zu einer Breite von maximal 1 m bei gleichzeitigem Einsatz von 6 cm Bordhöhen im Querungsbereich für blinde Verkehrsteilnehmer und Bodenindikatoren gemäß des damaligen Normenentwurfs DIN 32984 „Bodenindikatoren im öffentlichen Raum“ vom September 2009, entsprechende Beachtung finden müssen.
Keine verbindliche Nullabsenkungsbreite in DIN 32984
In der Ausgabe der DIN 32984 vom Oktober 2011 fand die Forderung einer Nullabsenkung mit einer max. 1 m Breite, weder im Text noch im Bild, eine Erwähnung bzw. Berücksichtigung. In dieser Normenausgabe wird lediglich mit einer nicht normativen Anmerkung darauf hingewiesen, dass Nullabsenkungen die breiter als 1 m sind, für blinde gefährlich sein können. Damit wird nicht zum Ausdruck gebracht, dass Nullabsenkungen in einer Breite von mehr als 1 m ausnahmslos für blinde gefährlich sind. Eine derartige Anmerkung oder Aussage ist in der überarbeiteten Ausgabe der DIN 32984 vom Dezember 2020 nicht mehr enthalten.
In der DIN 32984 (Ausgabe Dezember 2020) lassen sich auch keine verbindlichen Maßangaben zur Breite einer Nullabsenkung finden. Hier wird diesbezüglich lediglich in der nicht normativen Anmerkung 1 des Abschnitts 5.3.2.2 auf DIN 18040-3 „Barrierefreies Bauen – Planungsgrundlagen – Teil 3: Öffentlicher Verkehrs- und Freiraum“, Abschnitt 5.3.2.1 (mit Ausgabedatum vom Dezember 2014) hingewiesen.
Forderung der Breite einer Nullabsenkung an Querungsstellen auf 1 m – immer und überall?
In DIN 18040-3, Abschnitt 5.3.2.1 (Ausgabe Dezember 2014) wird gefordert, dass der auf „0“ abgesenkte Bord grundsätzlich auf eine Breite von 1 m begrenzt werden muss. Die „grundsätzliche“ Beschränkung der Nullabsenkung auf 1 m gestattet aus juristischer Sicht auch Ausnahmen, wie z. B. bei erhöhten Fußgängeraufkommen. Somit besteht keine Verpflichtung zur ausnahmslosen Einhaltung einer 1 m breiten Nullabsenkung.
Ausgangspunkt für die Stellungnahme des Gemeinsamen Ausschusses für Umwelt und Verkehr (GFUV) des DBSV „Getrennte Überquerungsstelle mit differenzierter Bordhöhe“ (https://www.dbsv.org/getrennte-%C3%BCberquerungsstelle-mit-differenzierter-bordh%C3%B6he.html) sind die aktuell anzuwendenden Fassungen der DIN 18040-3 sowie DIN 32984. Gestützt auf diese Regelungen, spricht sich der GFUV dafür aus, dass im Regelfall die Breite der Nullabsenkung 1m nicht überschreiten sollte und empfiehlt bei einem erhöhten Rollstuhl- und Rollatoraufkommen eine Breite von 2 m. Damit fordert der GFUV zwar keine Festlegungen für Nullabsenkungsbreiten, spricht jedoch die Notwendigkeit einer möglichst schmalen Gestaltung der Nullabsenkungsbreiten an.
Mit Veröffentlichung der DIN EN 17210 „Barrierefreiheit und Nutzbarkeit der gebauten Umwelt – Funktionale Anforderungen“ (Ausgabe August 2021) werden am Gehwegrand der Fußgängerquerungsstellen Nullabsenkungsbreiten empfohlen, die den Begegnungsfall von zwei Rollstühlen ermöglichen. An Mittelinseln wird eine derartige Nullabsenkungsbreite von der Norm gefordert.
Die sich derzeit in der Diskussion befindende Breite von 1,80 m für die Nullabsenkung resultiert letztlich aus der Forderung der DIN EN 17210 (Ausgabe August 2021), dass die Nullabsenkung auf Mittelinseln der Breite von zwei nebeneinanderstehenden Rollstühlen entsprechen muss. Dabei wird nach deutschem Verständnis eine Spurbreite von 90 cm für einen Rollstuhl zu Grunde gelegt.
Da man sinnvollerweise davon ausgehen kann, dass bei Fahrbahnquerungsstellen die Breite einer Nullabsenkung auf einer Mittelinsel der Breite einer gegenüberliegenden Nullabsenkung am Gehwegrand entspricht, erscheint die Empfehlung, zur Aufnahme in die DIN 18040-3, „sollte“ von 1,80 m Breite als fraglich und müsste im Grunde durch die Forderung „muss“ ersetzt werden.
💡 Mit der Festlegung einer Nullabsenkungsbreite von 1m in der künftigen DIN 18040-3 würde ein unzulässiger Widerspruch zur DIN EN 17210, zumindest im Bereich von Mittelinseln, entstehen.
Wie breit darf eine Nullabsenkung an Querungsstellen sein?
Neben der oben erwähnten Betrachtung ist es jedoch auch unerlässlich, sich mit der Frage ‚Wie breit darf eine Nullabsenkung sein?‘ auseinander zu setzen.
Verfechter der Begrenzung von Nullabsenkungen auf einen Meter Breite führen an, dass breitere Nullabsenkungen für blinde und sehbehinderte Menschen zu einer Gefährdung führen können. Hier wird die Tatsache zu Grunde gelegt, dass bei Nullabsenkungen die Trennlinie zwischen Gehweg und Fahrbahn nicht im ausreichend sicheren Maß mit dem Blindenlangstock oder den Füßen erkennbar ist. Ein unbeabsichtigtes Betreten der Fahrbahn kann nicht ausgeschlossen werden.
Im Allgemeinen ist anerkannt, dass bei weit auseinandergelegenen taktilen Raumbegrenzungen die Orientierung für blinde und sehbehinderte Menschen kaum noch gegeben ist. Dieser maßgebliche Aspekt wird in der DIN 32984 (Ausgabe Oktober 2011) daher auch entsprechend festgehalten. Dieser wesentliche Aspekt wird in der überarbeiteten Fassung der DIN 32984 (Ausgabe Dezember 2020) auch weiterhin geteilt.
Situationsbedingt kann nicht ausgeschlossen werden, dass an Querungsstellen mit differenzierter Bordhöhe, blinde Verkehrsteilnehmer ungewollt auf die Nullabsenkung stoßen. Hier kommt, trotz der zu verlegenden Bodenindikatoren, der Bordsteinkante eine besondere Bedeutung zu. Bei zunehmender Breite der Nullabsenkung wird es immer schwieriger diese markanten Orientierungspunkte mit dem Blindenlangstock aufzufinden und sicher zu ertasten. Dies ist insbesondere jedoch dann notwendig, wenn das Sperrfeld die Nullabsenkung nicht ausreichend absichert. Gründe für eine nicht ausreichende Absicherung können u. a. sein: Streusplitt, Verschmutzungen, fehlende Einbeziehung der Verziehungen aber auch die nicht ausreichende Tiefe der Sperrfelder von mindestens 60 cm, vorzugsweise 90 cm.
Darüber hinaus sei auch auf die gesammelten Erfahrungen mit Bodenindikatoren erinnert, dass allein diese nicht ausreichend sind, um eine bestehende Grenze zwischen der gefahrlosen Gehfläche und dem Gefahrenbereich Fahrbahn sicher taktil sowie visuell wahrnehmbar zu gestalten (vgl. DIN 32984, Abs. 5.9.2.1 Ausgabe Dezember 2020).
💡 Bei breiten Nullabsenkungen von mehr als 1,80 m sind nach DIN 18040-3 (Ausgabe Dezember 2014) weitergehende Sicherungsmaßnahmen, in Form von 90 cm tiefen Sperrfeldern, zu treffen. Als geeignete Beispiele zur Gestaltung von breiten Sperrfeldern werden auch Bodenindikatoren mit akustischen Kontrast oder Bodenindikatoren aus elastischem Werkstoff angeführt. In der Praxis finden diese Maßnahmen jedoch häufig an breiten Nullabsenkungen nur eine geringfügige Anwendung bzw. Berücksichtigung. Somit erfolgen nur in den wenigsten Fällen die normativ anerkannten und geforderten weitergehenden Sicherheitsmaßnahmen. Zu beobachten ist auch, dass Sperrfelder nur mit einer völlig unzureichenden und unzulässigen Tiefe von 30 cm gebaut werden. Daraus ergibt sich auch die Notwendigkeit, Nullabsenkungen möglichst schmal zu gestalten, um eine verlässliche Absicherung für blinde Menschen zu schaffen.
Es ist weiterhin bekannt und unumstritten, dass es blinden Menschen ohne eine gezielte taktile und akustische Führung nicht möglich ist, eine Fahrbahn geradlinig zu queren. Umso breiter eine Fahrbahn ist, umso größer dürfte die Abweichung von einer (der Lotrechten) geradlinigen Querung ausfallen. Bei starken Fußgängerströmen über eine Querungsstelle wird man oftmals (auch durch Ausweichmanöver) von einer geradlinigen Fortbewegung abgedrängt. Ohne eine visuelle Kontrolle (bei fehlenden Orientierungshilfen) lässt sich dies von blinden Fußgängern keinesfalls korrigieren. Gerät man dann auf der gegenüberliegenden Fahrbahnseite ungewollt auf eine breite Nullabsenkung von mehr als 1,80 m, ist eine ausreichende Orientierung nicht mehr gegeben. Eine Standortbestimmung, als Grundlage für eine weitere sichere Fortbewegung, ist schwierig. Die Erkennung und Unterscheidung des Gefahrenbereichs Fahrbahn vom sicheren Bereich Gehweg ist nicht einfach erkennbar (beispielsweise durch das Fehlen des Stockanschlags an der Bordsteinkante).
Zudem gibt zu denken, dass die Möglichkeit zur Gestaltung von Nullabsenkungen von über 1,80 m Breite bei einem erhöhten Fußgängeraufkommen eingeräumt werden soll. Gerade dieses erhöhte Fußgängeraufkommen, und nicht selten in diesen Bereichen die erhöhten Umwelteinflüsse durch ein starkes Kraftfahrzeugaufkommen mit erhöhten Lärmpegel, erschweren zusätzlich die Orientierung blinder Menschen.
Zusammenfassung:
Den Lösungsansatz von max. 1 m breiten Nullabsenkungen in der Normung durchzusetzen, gelang bisher weder in der DIN 32984 noch in der DIN 18040-3. Die DIN EN 17210 fordert für Nullabsenkungen auf Mittelinseln eine Breite, die der Breite von zwei nebeneinanderstehenden Rollstühlen entspricht. Die künftige Fassung der DIN 18040-3 darf nicht im Widerspruch zur DIN EN 17210 stehen. Die derzeitig zur Gestaltung von Nullabsenkungen anzuwendenden Normen DIN 18040-3 (Ausgabe Dezember 2014) und DIN 32984 (Ausgabe Dezember 2020) ermöglichen Nullabsenkungsbreiten von einem Meter sowie Breiten von mehr als 1,80 m.
💡 Bei der Betrachtung der Nullabsenkungsbreiten, aus der Sicht blinder Fußgänger, wird deutlich, dass aus Sicherheitsgründen eine möglichst schmale Nullabsenkungsbreite zu empfehlen ist.
In diesem Zusammenhang ist, unter Beachtung der hier dargelegten Ausführungen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt empfehlenswert, eine Nullabsenkungsbreite von 1,80 m in die künftige DIN 18040-3 aufzunehmen. Jedoch muss darauf hingewirkt werden, dass die Nullabsenkungen nicht breiter als 1,80 m ausgeführt werden.
Dieser Vorschlag dürfte den Vorstellungen der Befürworter, sowohl von schmalen als auch von breiteren Nullabsenkungen, annähernd gerecht werden.
Diese Verfahrensweise schließt jedoch die Umsetzung der bestehenden Vorschläge
a) einer Abgleichung und Diskussion der Nullabsenkungs-Problematik mit den Erfahrungen blinder Stockgänger sowie die b) Durchführung einer aktiven Aufklärung zur Beschränkung der Nullabsenkungsbreite nicht aus.
Weitere Informationen zum Thema Nullabsenkungen wie z. B. a) Bedeutung der Nullabsenkung b) Gestaltung der Nullabsenkung c) Sicherung der Nullabsenkung mit einem Sperrfeld d) die Verziehung